Online-Zeitzeugengespräch mit Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlag in Mölln 1992
Die Corona-Pandemie verändert nicht nur unser alltägliches Leben, sondern auch die Veranstaltungskultur an unserer Schule: noch vor vier Jahren konnten fast 100 Studierende in der Aula sitzen und Ibrahim Arslan persönlich kennenlernen, mit ihm ins Gespräch kommen.
2021 sieht das anders aus: am 10. Mai 2021 treffen sich 30 Studierende aus VM 3 und AO2 zusammen mit ihrer Geschichtslehrerin Stefanie Breyther via BigBlueButton, um aus erster Hand Informationen über die Brandnacht von Mölln zu erhalten. Das Theodor-Schwann-Kolleg arbeitet seit einigen Jahren mit Ibrahim zusammen, hat schon an der Gedenkfeier in Mölln oder an dem von ihm initiierten NSU-Tribunal teilgenommen. Umso größer ist an diesem Montag nachmittag die Freude, dass man zumindest virtuell weiter miteinander in Kontakt bleiben kann.
Nach einigen technischen Problemen, die mittlerweile fast schon zu unserem schulischen Alltag gehören, startet die Veranstaltung: Ibrahim möchte nicht nur über Mölln berichten, sondern auf die Kontinuität rassistischer Gewalt in Deutschland seit der 1980er Jahre aufklären. So startet er seine Präsentation auch mit Semra Ertan, die sich 1982 aus Protest gegen Rassismus selbst verbrannte. Ertan kündigte ihren Suizid durch Selbstverbrennung mit einem Anruf beim NDR an. In diesem Telefonat erklärte die 25-jährige auch das Motiv für ihre Tat: Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland sei der Grund für ihren Entschluss, vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit zu sterben.
Im Anschluss geht Ibo sehr ausführlich und sehr persönlich auf die Ereignisse im Jahre 1992 ein, die seine Familie für immer verändert haben: Er zeigt den Studierenden einige Fotos, an denen deutliche Brandspuren zu erkennen sind. Es sind die letzten Erinnerungen an seine Großmutter Bahide Arslan. Die Abbildungen zeigen sie auf einem deutschen Erdbeerfeld, auf dem sie bis zu 12 Stunden täglich gearbeitet hat, oder im Kreise ihrer Familie.
Seine Großmutter, so Ibrahim, hat ihm das Leben gerettet. Nachdem die Familie in der Nacht das Feuer bemerkt hat, beginnt die Großmutter auf der mittleren Etage des Hauses in der Mühlenstraße 9, die drei dort schlafenden Kinder Ibrahim, Yeliz und Ayse in Sicherheit zu bringen. Ibrahims Mutter befindet sich zu diesem Zeitpunkt ein Stockwerk weiter oben und hat wegen des sich rasch ausbreitenden Feuers keine Möglichkeit mehr, zu den Kindern zu gelangen. Sie soll nur noch gerufen haben: „Mutter, rette die Kinder!“
Bahide Arslan wickelt Ibrahim in nasse Handtücher und bringt ihn in die Küche, auf dem Weg zwischen Küche und Kinderzimmer bricht sie dann zusammen. Bahide Arslan kann die beiden anderen Kinder nicht mehr retten, alle drei sterben in den Flammen.
Ibrahim spricht auch darüber, wie wichtig die Arbeit z.B. an Schulen für Betroffene ist. Sprechen bedeute für ihn Befreiung, so Arslan. Dies können auch die Studierenden bemerken, denn sein Husten, Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, verschwindet während des Vortrages fast gänzlich: „Für Betroffene ist es unglaublich wichtig, dass Menschen sich die Zeit nehmen, ihren Geschichten zuzuhören. Solche Menschen seid ihr!“
Im Anschluss geht Arslan auf viele Fälle rassistischer Gewalt in Deutschland ein, berichtet über Amadeu Antonio, Oury Jalloh oder die Opfer des NSU. Eines wird den Studierenden schnell klar: Es geht ihm immer um die Perspektive der Betroffenen, nie um die Täter. Ganz im Sinne der Betroffenen von Hanau, die immer wieder say their names fordern, nennt Ibrahim ganz bewusst die Namen der Opfer und macht sie zu „Hauptzeugen des Geschehens“.
Im Anschluss an Ibos Vortrag haben die Studierenden die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Lange und sehr kontrovers diskutiert die Gruppe vor allem über die Frage „Was ist Rassismus?“
Wir bedanken uns bei dir, Ibo, und hoffen, dass wir auch weiterhin in Kontakt bleiben.
Fotos und Text: Frau Breyther